Zwischen Hörsaal und Herkunft: Arbeiterkinder an der Uni
Unsere Gastautorin gibt ihre Masterarbeit ab und spürt dabei: keine Erleichterung. Sarah Wägerle erinnert sich an ihre Studienzeit zurück und beantwortet, was soziale Herkunft und Bildungschancen miteinander zu tun haben.
©Toni Quell. Wie fühlt es sich an, als erste in der Familie zu studieren? Sarah Wägerle erinnert sich zurück.
Ein Wintertag 2017. Auf dem Stundenplan: Empirische Bildungsforschung. Ich bin damals 21, Studentin der Anglistik und Erziehungswissenschaften, und verfolge im Zentralen Hörsaalgebäude der Uni Würzburg die an die Wand projizierten Studien und Statistiken über Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem. Thematisiert werden vor allem die Parameter Geschlecht und Migration. Auch die soziale Herkunft spielt in der Vorlesung eine Rolle, wenn auch hauptsächlich in abstrakten Zahlen. Worüber wir nicht sprechen: Wie es sich konkret anfühlt, als Erste in der Familie zu studieren. Wie tief die Selbstzweifel sitzen können. Wie fremd sich der universitäre Kosmos anfühlen und wie wenig zugehörig man sich fühlen kann. Damals war mir noch nicht bewusst, dass mich diese Einsichten Jahre später, besonders gegen Ende meines Masterstudiums, erneut einholen und prägen würden, wenn ich auf das letzte Jahrzehnt des Studierens zurückblicke.
Du bist, was du konsumierst: Habitus und Klasse
Bildung gilt gemeinhin als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe und als Weg aus sozialer Benachteiligung. Doch wer sich intensiver mit Ungleichheit beschäftigt, stößt unweigerlich auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Sein Konzept des Habitus und die Theorie der verschiedenen Kapitalformen bieten eine tiefgreifende Erklärung dafür, warum Bildung eben nicht für alle gleichermaßen zugänglich ist, und warum Herkunft in vielerlei Hinsicht noch immer über Zukunft entscheidet. Der Habitus beschreibt die verinnerlichten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster eines Menschen, geprägt durch das soziale Umfeld. Dieses unsichtbare, aber wirkmächtige System entsteht durch die Weitergabe von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital in der Familie, und beeinflusst, wie wir uns in Bildungskontexten (nicht) bewegen.
©Toni Quell. Was vom Masterstudium auf jeden Fall übrig bleibt.
In meiner Kindheit fanden Theater- oder Museumsbesuche fast ausschließlich im Rahmen von Schulausflügen statt. Bücher dienten der Unterhaltung, nicht der intellektuellen Bildung. Meine Mutter hätte mir ein Praktikum in einer Backstube ermöglichen können, aber sicher keines im Rathaus oder einer renommierten Klinik (und an dieser Stelle: Props an alle Bäckereifachverkäufer:innen, ihr leistet da einen buchstäblichen Knochenjob!). Wäre mein Vater ein angesehener Rechtsanwalt gewesen statt ein aus der Türkei emigrierter Elektriker, hätte ich vielleicht über mehr symbolisches Kapital verfügt – jenes Ansehen, das in Bildungseinrichtungen oder auf dem Arbeitsmarkt oft Türen öffnet, noch bevor das erste Wort gesprochen ist. All diese Kapitalformen greifen ineinander: Wer Geld hat, kann kulturelle Angebote wie Auslandsaufenthalte oder musische Bildung finanzieren. Dadurch wächst nicht nur das kulturelle Kapital, sondern auch das soziale Netzwerk, welches entscheidend ist für spätere Chancen.
©Toni Quell. Wer fühlt sich in den Gängen der Universitäten zuhause und wer nicht?
Genau hier setzt Bourdieus zentrale These an: Soziale Ungleichheiten werden durch Kapitalweitergabe von Generation zu Generation reproduziert. Die OECD bringt es auf den Punkt: Es dauert im Schnitt sechs Generationen – also rund 180 Jahre –, bis Nachkommen einkommensschwacher Familien das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen erreichen. [1] Wie tief diese Mechanismen greifen, wurde mir besonders im Masterstudium bewusst. Während ich im Bachelor noch dem romantisierten Bild eines freien, selbstverwirklichten Studierendenlebens hinterherlief, prägten den Master vor allem Selbstzweifel und das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Ich erinnere mich gut an Seminare, in denen ich die Beiträge meiner Kommiliton:innen als brillant empfand, meine eigenen dagegen als wirres Kauderwelsch. Auch außerhalb der Uni blieb das Gefühl, dass andere die „richtigen“ Bücher lasen, die „richtigen“ Serien schauten und sich selbstverständlicher im akademischen Diskurs bewegten.
Was ich damals noch nicht wusste: Diese Unsicherheit war kein bloß psychologisches Problem, sondern Ausdruck eines Habitus, der nicht zum Feld passte, in dem ich mich nun bewegte. Es dauerte, bis ich begriff: Das ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Bildungserfolg hängt nicht nur vom Leistungswillen ab, sondern ist eng an die soziale Herkunft geknüpft. Ich bin meiner Mama, die mich allein großzog, unendlich dankbar, ohne sie wäre ich jetzt nicht da, wo ich heute bin. Aber mein Aufwachsen verdient trotz aller Dankbarkeit auch einen kritischeren Blick. Denn dass ich im Studium oft das Gefühl hatte, ich gehöre nicht an die Uni, hat nicht mit nichts zu tun.
©Toni Quell. Unsere Gastautorin hat ihren Master in der Tasche und lebt heute in Köln.
Raus aus dem Elternhaus, rein in die Armut
Oktober 2016: Es ist gerade ein paar Monate her, dass ich mein Abitur gemacht habe, und plötzlich finde ich mich in meinem WG-Zimmer in Würzburg wieder, das damals sage und schreibe 290 Euro warm kostete. Heute, fast zehn Jahre später, wären solche Mieten in Universitätsstädten undenkbar. Eine Studie des Moses Mendelssohn Instituts (September 2024) zeigt: In fast keiner Hochschulstadt, in der 75 % der Studierenden eingeschrieben sind, liegt der Preis für ein gewöhnliches WG-Zimmer unterhalb der BAföG-Wohnkostenpauschale von 380 € (Diese Pauschale gilt allerdings nur, wenn man nicht zuhause oder in elterlichem Eigentum wohnt). Der BAföG-Höchstsatz im Wintersemester 24/25 liegt bei 992 €, inklusive 137 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung. [2] Gleichzeitig ist der durchschnittliche WG-Zimmerpreis im Wintersemester 2024/25 auf 489 Euro gestiegen – im Vergleich zu 324 Euro im Wintersemester 2013/14 ist das eine Steigerung von fast 51 % innerhalb von zehn Jahren. Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum und Leben, denn noch immer sind es vor allem Studierende, die von Armut betroffen sind. Mehr als 80 % derjenigen, die allein oder in WGs wohnen, leben unterhalb der Armutsgrenze. [3] Und das, obwohl zwei von drei Arbeiter:innenkindern neben dem Studieren noch arbeiten gehen. Allerdings gibt es auch hier Einschränkungen, denn wer während des Studiums noch einer Tätigkeit nachgeht, darf hier – Stand Sommersemester 2025 – „nur“ 556 Euro dazuverdienen. [4] Wer also in Städten wie München mit einer Durchschnittsmiete von 790 Euro (!) wohnt, dem bleibt am Ende nicht mehr viel zum Leben.
Mein Lieblingsmärchen: „Du kannst werden, wer du willst“
Der Hochschulreport 2020 zeigt deutlich, wie stark Bildungserfolge von der sozialen Herkunft abhängen. [5] Zwischen 2007 und 2009 nahmen 21 von 100 Grundschulkindern aus Arbeiter:innenfamilien nach dem Abitur ein Studium auf, bei den Akademiker:innenkindern waren es 74. Und es geht weiter: Von 100 Grundschulkindern ohne akademischen Hintergrund machen 8 einen Master, nur eine Person promoviert. Bei Akademiker:innenkindern sind es 45 Masterabschlüsse und 10 Promotionen. Nicht alle, die ein Bachelorstudium beginnen, schließen es auch ab, doch schon am Anfang wird sichtbar, wer überhaupt eine Chance bekommt, weiterzukommen.
©Toni Quell. Für die Fotos treffen wir Sarah Wägerle im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin.
Studieren im Überlebensmodus: Jung, migrantisch, broke
Ich spreche mit Olga, die ich bei ArbeiterKind.de kennenlerne, einer Initiative, die Erstakademiker:innen unterstützt. Olga kam mit 15 Jahren und 0 Deutschkenntnissen nach Deutschland, machte wenige Jahre danach ihr Abitur und studierte später Kunstgeschichte – ein elitärer Studiengang, wie sie mir erzählt. Während andere HiWi-Jobs an der Uni machten, saß Olga an der Netto-Kasse, im Call-Center, oder half in einer Restaurantküche aus. Unbezahlte Praktika? Nicht möglich. „Ich befand mich im Überlebensmodus“, verrät mir Olga. Rückblickend weiß sie, dass das alles mit struktureller Benachteiligung zu tun habe; währenddessen blieb allerdings gar keine Zeit, um darüber nachzudenken. Zu beschäftigt sei sie damit gewesen, sich ihr Leben zu finanzieren. Auch ihr Zugang zur Kunst war nicht selbstverständlich. Im Gegensatz zu ihren Mitstudierenden waren ihr Museumsbesuche mit den eigenen Eltern fremd. Es dauerte, bis sie erkannte: „Ich habe ein Recht auf Zugang zur Kunst. Ich habe dort (m)einen Platz.“
©Toni Quell. Uni steht ihr.
Die werden, die wir gebraucht hätten
Heute promoviert Olga – sie gehört damit zu einer verschwindend kleinen Gruppe innerhalb der Erstakademiker:innen. Sie möchte in die Lehre gehen: anders lehren, interaktiv, demokratisch, zugänglich. Und sie möchte ihre Geschichte erzählen, den Studierenden ganz transparent kommunizieren, „Hey, ich bringe nicht nur theoretisches, angeeignetes Wissen mit, sondern auch verkörpertes Wissen.“ Für sie ist klar: Jedes Wissen, das Studierende mitbringen, hat einen Wert, auch wenn es nicht dem traditionellen akademischen Kanon entspricht. Das möchte sie den Studis später auch mit auf den Weg geben.
„Die Uni ist heterogen, aber das wird nicht gesehen“
Olga und ich sind uns einig: Das Thema soziale Herkunft muss sichtbarer an Hochschulen werden. Es braucht mehr Sensibilität, besonders bei Lehrenden. Bei unserem Treffen erzähle ich Olga davon, wie gerne ich meinen Professor:innen gesagt hätte: „Guckt mal, das ist meine Geschichte, ich musste das bisher alles allein machen, und deshalb sitze ich jetzt zweifelnd vor dir. Bitte hilf mir.“ Ja, es gibt Formen der Unterstützung, wie zum Beispiel Seminare zum wissenschaftlichen Schreiben, aber oft sind die Hürden schlichtweg zu groß und die Selbstzweifel zu laut. Es braucht ein Bildungssystem, das nicht nur Leistung misst, sondern Herkunft mitdenkt und konkret unterstützt. Eines, das nicht davon ausgeht, dass alle mit denselben Voraussetzungen starten. Denn wer an der Uni ankommt, hat oft schon einen langen, steinigen Weg hinter sich. Wir sollten anfangen, diese Wege mitzuerzählen und sie in Lehre, Betreuung und Hochschulpolitik sichtbar zu machen. Nicht aus Mitleid. Sondern für mehr Gerechtigkeit.
Über die Autorin
Sarah Wägerle kommt ursprünglich aus dem Schwabenland und zieht 2020 für ihren Amerikanistik-Master nach Köln, wo sie seither lebt. Nebenher arbeitet sie als freie Redakteurin für den ÖRR und versucht, ihren Platz im Journalismus zu finden. Bevor sie eines Tages ein Buch über ihre Nebenjobs im Einzelhandel schreibt, backt sie ihre ersten journalistischen Brötchen bei canny.