Warum ist die Gen Z so besessen von Proteinen?
Ob als Pudding, Riegel oder Brot: High-Protein-Produkte liegen im Trend. Lukrative Zielgruppe: die Generation Z. Wie keine Generation vor ihr ist sie besessen von Gesundheit und Wellness. Dass Proteinprodukte laut Expert:innen total unnötig sind, stört uns dabei wenig.
Als Pulver oder Erdnussbutter: Proteinprodukte gibt es in allen Formen und Geschmacksrichtungen. © Unsplash/ HowtoGym, Pexels/Karolina Grabowska
Elegant in schwarzer Verpackung steht er da im Kühlregal, der High-Protein-Milchreis. Eingequetscht zwischen dem Sahnepudding und dem Fruchtjoghurt und direkt neben dem ganz normalen Milchreis derselben Marke. Von Letzterem unterscheidet er sich auf den ersten Blick durch den auffällig schwarzen Becher. Und durch seinen Preis. Gut, er ist ein bisschen teurer als der Normalo-Milchreis, aber für das Geld bekommt man ja auch was: 15 Gramm Protein pro Becher enthält er, das ist schon eine Menge. Habe ich heute schon genug Eiweiß gegessen? Lieber auf Nummer sicher gehen. Der High-Protein-Milchreis wandert in den Einkaufskorb.
Alles in High-Protein, bitte!
Proteinprodukte versprechen uns, dass wir mit ihnen unseren Eiweißbedarf ganz bequem und ohne nachzudenken decken können. Bei jedem Besuch im Supermarkt scheint es ein Lebensmittel mehr in der High-Protein-Variante zu geben. In der Kühltheke warten Proteinpudding und High-Protein-Joghurt auf uns, in der Backabteilung Proteinkekse und -brot. Für das Mittagessen gibt es Protein-Nudeln und als Nachtisch ein Protein-Eis. Auf Instagram und TikTok halten Influencer:innen strahlend ihren High-Protein-Chai-Latte in die Kamera, den Rabattcode gibt es natürlich gleich mit dazu. High-Protein-Produkte sind Lebensmittel, deren Kaloriengehalt zu mindestens 20 Prozent aus Eiweißen stammt. Oft sind sie deutlich teurer als vergleichbare herkömmliche Varianten. Der Markt ist riesig. Von Mitte 2022 bis Mitte 2023 wurden allein in Deutschland über eine Milliarde Euro mit High-Protein-Produkten umgesetzt. Die Prognosen gehen nach oben.
Hochverarbeitet, überteuert, unnötig
Wirklich brauchen tun wir diese Produkte nicht. Das sagt nicht nur die mahnende Stimme im Hinterkopf, sondern auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE). Im Gegensatz zu den zahllosen Fitness-Influencer:innen auf Instagram ist die DGE eine wissenschaftliche Autorität, wenn es um Ernährung geht. Und ihr Urteil mehr als eindeutig: Statt zu High-Protein-Produkten zu greifen, könnten wir es auch einfach mal ernst nehmen mit der ausgewogenen Ernährung. Die deckt unseren Eiweißbedarf nämlich komplett – so hoch ist der gar nicht. Erwachsene, die bis zu fünf Stunden Sport in der Woche machen, brauchen täglich 0,8 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht. Das schafft man mit einer normalen Ernährung recht entspannt. Proteinprodukte sind dagegen meist hochverarbeitet, überteuert und enthalten viele Zusatzstoffe. Und auch wenn eine ausreichende Proteinversorgung essenziell ist für Muskeln, Nervensystem und eine normale Körperfunktion, zu viel Eiweiß belastet den Stoffwechsel. Wer es übertreibt mit Proteinpulver und Co., riskiert unter Umständen gesundheitliche Probleme wie Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen oder Mundgeruch.
Zwischen TikTok-Trend und Milliarden-Markt
Trotzdem, es fühlt sich irgendwie gut an. Denn wir wollen doch unserem Körper etwas Gutes tun, wir wollen doch gesund leben! Die Generation Z ist extrem fitness- und gesundheitsversessen. Wir trinken weniger als unsere Eltern und Großeltern, machen mehr Sport und essen gesünder. Während Oma und Opa mit 25 ihre Sonntage mit Frankfurter Kranz und Zigarette am Wohnzimmertisch verbrachten, treffen wir uns auf einen Matcha Latte im Café und gehen danach zum Pilates. Vorgelebt wird uns dieser Lifestyle in den Echokammern von Instagram und TikTok. Die sozialen Netzwerke sind ein Riesen-Einflussfaktor für unsere Konsumentscheidungen, ob bewusst oder unterbewusst. Viele Proteinmarken setzen deshalb stark auf Influencer:innenmarketing. Je nach persönlichem Algorithmus kann das allabendliche Doomscrolling schnell zur High-Protein- Dauerwerbesendung werden. Dabei vergisst man schnell, dass hinter den nahbaren Creator*innen im Gym-Outfit und mit Proteinshake in der Hand die Interessen einer Milliarden-Industrie stehen. Und berechtigte Kritik wie die der DGE wird schnell überhört. So läuft es eben im Kapitalismus.
Mit Proteinriegeln gegen den Weltschmerz?
Ist der High-Protein-Hype also nur das Ergebnis einer ausgefeilten Marketingstrategie? Oder gibt es noch andere Gründe, warum ausgerechnet wir nicht genug bekommen können von Proteinprodukten? Vielleicht findet sich die Antwort auf diese Frage gar nicht nur auf Instagram oder TikTok, sondern auch bei der Tagesschau, in News-Podcasts und Tageszeitungen.
Wirft man einen Blick in die Nachrichten, bekommt man schnell ein mulmiges Gefühl. Wir erleben aktuell unsichere Zeiten, eine Krise folgt auf die nächste. Das trifft die ganze Gesellschaft, besonders die Gen Z reagiert aber mit Pessimismus und Zukunftsangst. Junge Menschen werden erwachsen in einer Welt, die von radikalen Wandlungen geprägt ist und in der es wenig gibt, das Sicherheit verspricht. Dass man durch harte Arbeit ein gutes Leben erreichen kann – daran glauben knapp drei Viertel der Unter-30-Jährigen nicht mehr.
Und hier kommt Fitness ins Spiel. Denn ob Wahlergebnisse oder Wohnungsmarkt: Vieles, das uns beschäftigt, können wir als Individuen kaum beeinflussen. Man fühlt sich machtlos und ohnmächtig. Der Fitness-Lifestyle dagegen stärkt Resilienz und mentale Gesundheit. Für fast die Hälfte der jungen Gym-Fans ist Mental Wellbeing Prio Eins beim Workout. Daneben liefert der Lebensstil auch etwas, das viele junge Menschen sonst eher vom Hörensagen kennen: das Gefühl von Kontrolle. Wenn wir etwa einen Marathon laufen wollen oder endlich einen ordentlichen herabschauenden Hund hinkriegen möchten, hängt es nur von uns ab, ob wir erfolgreich sind. Für Menschen ohne Behinderung oder chronische Krankheiten bleibt der eigene Körper eine Bastion, in der nur sie die Fäden in der Hand halten.
Vielleicht ist es deshalb zu kurz gedacht, die Fitness- und Proteinbegeisterung der Gen Z nur auf TikTok-Trends und Marketing zu schieben. Wenn wir uns dank Fitness besser fühlen, macht das High- Protein-Produkte vielleicht in gewissem Maße zu Selfcare. Vielleicht gibt uns das Erreichen des täglichen Proteinziels einfach ein kleines bisschen Kontrolle in einer verunsichernden Welt. Mit Proteinriegeln gegen den Weltschmerz. Was auch immer der Grund ist – beim Label „High Protein“ greift vor allem unsere Generation jedenfalls gerne und viel zu.
Wenn es doch nur so einfach wäre
Der High-Protein-Milchreis liegt in meinem Einkaufskörbchen zwischen den Tomaten und der Paprika. „15 g Protein pro Becher“ verspricht sein Deckel, halb verdeckt vom Zellophan der Gemüse- Verpackung. Es klingt so schön. Ich sollte ihn zurücklegen, die DGE hat ja Recht mit ihrer Kritik. Zu viele Zusatzstoffe, unnötig, überteuert. Aber während ich ihn zurückstelle ins Kühlregal zu Sahnepudding, Fruchtjoghurt und Normalo-Milchreis, da wünsche ich mir fast, an seinem Versprechen wäre etwas dran. Dass es in dieser unsicheren, hochkomplexen Zeit immerhin für meinen Proteinbedarf eine ganz simple, käufliche Lösung gibt. Und als ich den Supermarkt verlasse, mit Tomaten und Paprika unterm Arm und irgendwie ärgerlich wegen der ganzen Protein-Sache, da kann ich nicht anders als zu denken: Ich werde mir wohl nie eine Wohnung leisten können, aber die 1,49 Euro für diesen High-Protein-Milchreis, die wären drin gewesen.
Gastautorin Birte Wulfes
Birte Wulfes ist Wahlberlinerin und war in der Schule Liebling ihrer Deutschlehrer:innen – jedenfalls nach eigener Aussage. Studiert hat sie dann aber doch Biochemie und Lebensmittelchemie in Berlin und Karlsruhe. Dem Schreiben bleibt sie trotzdem treu und wagt sich als Gastautorin für canny an eine These zum Proteinhype in der Gen Z. Birtes letzten Text findet ihr hier.
Verwendete Quellen:
morgenpost.de: “Generation Z: Davor haben junge Menschen am meisten Angst”
tggplc.com: “Mental wellbeing a top priority for Gen Z’s workout motivation”
refinery29.com: “Gyms Are Helping Gen Z Feel Back In Control — I Get It”