"Legitimation durch Leistung“
Ich treffe Jovana Reisinger, die ein Buch über Pleasure, also über das Genießen geschrieben hat. Wieso es ihr selbst schwer fällt, und was Klassismus damit zu tun hat.
©Toni Quell. Schlipsträger, Kleinkarierte, Sesselfurzer jetzt wird es ungemütlich – hier kommt Jovana Reisinger.
„Gibt’s Styling?“ fragt Jovana Reisinger via E-Mail, noch bevor wir den Termin für das Interview ausgemacht haben. Nicht erst seit ihrem neuesten Buch Pleasure steht Reisinger für Glamour und Chichi. Während andere in Rollkragen und mit zweieinhalb Dioptrien die feinen Leuten für sich gewinnen wollen, zieht die selbst ernannte Tussi in Heels und Swarovski-Herz-Ohrringen in den Klassenkampf. Jovana hat es gern schön, wieso auch nicht? Auf ihre Mail antworte ich „Come as you are, du siehst eh immer toll aus“, was nicht gelogen ist, und unser Treffen ist besiegelt.
Ein gutes Gespräch geht durch den Magen
Das Westberliner Feinkostgeschäft, in dem wir sprechen, sieht Jovana Reisinger nicht zum ersten Mal von innen. Im Gegenteil, das Rogacki ist für die gebürtige Münchnerin ein häufig besuchter Ort. Man kann den Laden weder als Restaurant (es gibt keine Stühle) noch als Supermarkt (es gibt keine verpackten Produkte) bezeichnen. Vielmehr stehen wir in einer Kantine mit überdurchschnittlich viel Charme.
Es riecht nach einer herzhaften Mischung aus Wurst, Fisch und Renteneintritt, gelbe Lampenschirme tauchen den Backsteinboden in warmes Licht. Das Personal trägt schicke grün-weiß gestreifte Hemden kombiniert mit einer grünen Schürze und einem ebenfalls grünen Schleifchen am Kragen. Mein Blick trifft den vom toten Fisch in der Auslage. Armer Kerl, denke ich. Er kann unserem Gespräch nicht mehr folgen. „Ich habe das Gefühl, hier treffen viele verschiedene soziale Schichten aufeinander. Das Rogacki ist ein alteingesessenes Delikatessenhaus im Westen von Berlin, ab und zu kommt wer mit Pelzmantel rein – aber hier stehen auch Arbeiter:innen rum. Man toleriert sich und mehr noch, man kommt ins Gespräch. Deswegen finde ich diesen Ort so toll.“
Eat sleep work repeat
Dass sich eine Münchnerin fast jede Woche am anderen Ende des Landes in Berlin rumtreibt, ist nur dann verwunderlich, wenn man Jovana Reisinger nicht kennt. Die Schriftstellerin schreibt Essays, Bücher, Kolumnen, Drehbücher, und zwar von überall. Wegen ihrer Lesungen und Geschäftsterminen tourt sie durch ganz Deutschland. Wenn man sich ein zufälliges Treffen mit Jovana erhofft, dann steigt die Chance darauf im ICE deutlich. Am liebsten arbeitet Reisinger jedoch in ihrem Bett. Sie liegt generell gern, und mit unter anderem diesem Image ist sie auch zu der öffentlichen Persona geworden, die sie heute ist. Spätestens seit der Veröffentlichung von Pleasure steht Jovana Reisinger für das gute Leben, für Gönnung gepaart mit Schamlosigkeit. Pleasure, das sei eine Haltung und bedeute Bedürfnisbefriedigung ohne Scham. In Reisingers Buch sind das beispielsweise Essiggurken direkt aus dem Glas, fake Designerklamotten, echte Designerklamotten, Butterbrote (die guten), Sex, Schlafen, insbesondere Ausschlafen.
Dass dieses Image so nicht ganz der Wahrheit entsprechen kann, habe ich mir schon gedacht. Auf Instagram sieht es so aus, als würde Reisingers Leben – wie auch ihr Buch – aus Klamotten, Essen und Schlaf bestehen. Dabei haben sich ihre fünf Bücher sicher nicht von allein geschrieben, genauso wenig wie die Kolumne bei der Vogue oder der FAZ oder die unzähligen Drehbücher und sogar Theaterstücke. Auch drei Studienabschlüsse bekommt man in der Regel nicht vom Rumliegen. Meine Vermutung ist eher: Jovana Reisinger ist eine Workaholic.
©Toni Quell. Unsere Gästin zieht mit Heels und Swarovski-Herz-Ohrringen in den Klassenkampf.
„Die Leute denken immer, die arbeitet doch gar nicht, die hat nur Fun. Aber ich arbeite den ganzen Tag. Irgendwann im vergangenen November, bin ich aufgewacht und wusste: ich kann nicht mehr. Ich hatte 60 Wochen durchgearbeitet, nicht ein Tag frei. Also habe ich versucht, mich ein bisschen zu erholen, aber wenn ich ehrlich bin, arbeite ich die ganze Zeit“. Eigentlich wollte ich unsere Gästin fragen, wie man das Leben genießt, schließlich hat sie ein 400-seitiges Buch darüber geschrieben. Es dauert jedoch nicht lang und unser Gespräch dreht sich um eine Gesellschaft, in der man sich keine Pause leisten kann.
Genuss und Klassismus
Besonders ein Aspekt am Thema Genuss reizt die Autorin: die Akzeptanz von Pleasure in Abhängigkeit von Klasse. Leuten mit viel Geld werde wesentlich mehr Genuss zugestanden als jenen ohne Geld. „Ich musste immer arbeiten, damit ich zusätzlich arbeiten kann. Immer Kohle ran schaffen, um dann dieses Buch oder jenen Text schreiben zu können. Es gab da so einen Klick-Moment und ich stellte fest, es gibt eine Scham, die ist inhärent in mir drin, auch in meiner Biografie, die mir sagt: Wenn du nichts arbeitest und nichts leistest, dann bist du nichts wert. Wert habe ich nur, wenn ich der Gesellschaft etwas bringe. Also Legitimation durch Leistung.“ Wenn sie sich auf dem roten Teppich fehl am Platz fühlte, zählte sie sich ihre Erfolge im Kopf leise auf. Wer ein richtiges Buch geschrieben hat, darf auf dem roten Teppich sein, so der Gedanke.
Entspannen in Zeiten von Beschleunigung fällt vielen schwer, selbst jenen mit ausreichend Geld. Eine andere Komplexität erreicht das Genießen jedoch, wenn es eine von Klassismus betroffene Person ist, die es tun soll. „Aus diesem permanenten Mangel von Geld früher, weiß ich, wie schlimm es ist, wenn man … man hat halt ständig Angst. Ich weiß noch, einmal hatte ich Corona und eine Grippe gleichzeitig, da habe ich beim Arzt angefangen zu heulen. Der Arzt sagt: aber ist doch gar nicht schlimm, ich gebe Ihnen jetzt eine Krankschreibung. Ich schluchzte: Aber bei wem denn? Dann hat er seine Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen und gesagt: Meine Güte, ich vergaß, Sie sind ja selbstständig! Ich hab geflennt in dieser Praxis, weil ich dachte: Jetzt muss ich drei große Lesungen absagen, ich weiß nicht, wie ich meine Miete zahlen soll“, erinnert sich Reisinger zurück. „Jetzt bin ich zum ersten Mal an einem Punkt, an dem ich sagen würde, ich habe Geld. Ich denke immer, ich bin jetzt ultra reich – mein Steuerberater hat mich ausgelacht. Der hat den Kopf geschüttelt und gesagt: das ist wirklich gar nicht reich.“ Jovana lacht und nimmt einen Schluck von ihrer Coke zero. Endlich genug Geld – wäre dann jetzt nicht der Zeitpunkt für Entspannung? So einfach ist das nicht: „Weil ich weiß, dass es vielleicht nicht von Dauer ist. Ich kenne so viele Leute, die sich sofort schlecht fühlen, wenn sie nicht arbeiten. Dieses Gönnen musste ich mir richtig beibringen.“
©Toni Quell. Mit Styling kennen wir uns mehr schlecht als recht aus – also muss Jovana Reisinger selbst ran.
An der Theke bestellen wir das sechs-Austern-Special mit einem Glas Moët von der doppelseitig bedruckten, einlaminierten Plastikkarte. Jovana träufelt die Zitrone über die silbrig glänzende Delikatesse und erklärt mir, wie man Austern isst. Ich packe meine Kamera aus, um dabei Bilder von ihr zu schießen. Und während wir da so stehen, Jovana mit ihren langen rosa Krallen und ihrer Sonnenbrille als Schutz vor dem Blitzlichtgewitter, kauern eine Handvoll Westberliner Urgesteine wie die Hühner auf der Stange an der Theke und grunzen sich in die zugeknöpften Kragen: Hier ist ja aber was los!
©Toni Quell. Zuerst etwas Flüssigkeit abgießen, dann Zitrone darüber träufeln, die Auster lösen – und schlürfen.
Jovana Reisinger ist wohl nicht die erste Person in diesem Land, die zu viel arbeitet – aber eine der wenigen, die kaum darüber redet. Wieso auf Instagram lieber Tennisplatz und Sonnenliege anstelle von Schreibtisch und Laptop? Wieso ist es ihr so wichtig, Fun zu propagieren anstatt harter Arbeit? „Ich hab keinen Bock, für diese neoliberale Lüge vom Aufstieg durch harte Arbeit herzuhalten. Die große Aufsteigerin, guckt euch die an, die arbeitet ununterbrochen. Sie ist der Beleg, genau so muss man es machen. Opfere dich auf, rein in den Burnout und in den nächsten und in den nächsten. Wenn man mich als Beispiel nehmen würde, als Idol oder als Ikone von so einer Aufstiegsgeschichte, dann wäre das einerseits zwar sehr richtig, aber ich finde, es verkauft trotzdem die falschen Werte. Ich hatte extrem viel Glück, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, ich habe Talent. Ja, ich habe krass geackert, aber trotzdem ist es nicht nur das – andere Leute arbeiten genauso hart, und es führt zu nichts.“
Dass klassistische Strukturen mit sogenannten Aufsteiger:innengeschichten romantisiert werden, ist keine Seltenheit. In Literatur zu dem Thema berichten Betroffene häufig davon: Wie Erfolg oder Misserfolg einzig und allein auf sie persönlich zurückgeführt wird. So als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen Reichtum und Gesundheit, Geschlecht und Gehalt, Heteronormativität und Sicherheit, Migrationsgeschichte und Mitgemeintsein. Aber Aufstiegsgeschichten lassen sich eben so schrecklich gut verkaufen, das bekommt Reisinger mehr als einmal zu spüren. „Ich sprach mit einer Frau über eins meiner Bücher. Nach diesem Gespräch sagt sie dann, es wäre total super für mich, dass ich mir jetzt Prada leisten könne – Second Hand übrigens – viel interessanter wäre doch aber, wie das denn war, so ohne Strom und ohne heißes Wasser?“ Reisinger äfft die Frau in einem gespielt naiven Tonfall nach. Durch den Kopf geht ihr: „Dicka, das interessiert mich überhaupt nicht! Ich hab doch keinen Bock, deinen Voyeurismus zu stillen. Schalt halt selber mal eine Woche den Strom aus, wenn dich das so stark interessiert.“
©Toni Quell. Hier lässt es sich aushalten: Das Rogacki ist ein Feinkostgeschäft im Herzen von Charlottenburg.
Fun und Feminismus
Vieles teilen wir in richtig und falsch ein: Hochkultur versus Unterhaltungskultur, teuer und billig, anständig und unangebracht, Feminismus versus Fun. Reisinger ist eine der wenigen Personen, die diese Gegensätze irgendwie in sich zu vereinen scheint. Gerade letzteres jedoch wird in der Öffentlichkeit sehr streng verhandelt. Aus diesem Grund liest man auch einige kritische Stimmen zu Pleasure. Auf Goodreads schreibt jemand in die Bewertungen: „(doch kein) luxus für alle oder auch: die leiden der jungen cis frau - danke, ich habe eigene probleme.“
Champagnerfeminismus, so nennt das Internet jenen Feminismus, der der Komplexität von Diskriminierung nicht gerecht wird. Mit noch schlechterer Laune ziehen die Markusse und Christians der Buchplattform vor Gericht: „Interessanter Einblick in eine absolut talent- und begabungsfreie Schreiberin / politisch willfährige Erfüllungsgehilfin des Zeitgeistes (wohl ohne sich dessen bewusst zu sein?)“
Es ist und bleibt ein Politikum: Wie verhilft man mehr Menschen zu einem guten Leben? Von Schlaf und leckerem Essen werden eben keine Mieten oder Kinderschuhe bezahlt. Auch Reisinger weiß: „Am Ende des Tages läuft es immer darauf hinaus: Gib den Leuten Geld, gib denen Grundversorgung, zum Beispiel Wohnraum und Krankenversicherung. Man braucht diese Sicherheiten. Ich kann noch so viele schöne Essays darüber schreiben, dass auch die Person aus der Platte ein gutes Leben verdient hat. Am Ende geht es um Geld, um Strukturen, um sozialdemokratischen Wandel.“
Reisinger hat schon vieles geschafft, den Klassismus aber hat sie nicht von heute auf morgen besiegt – auch wenn sich das viele von ihr wünschen würden. Ich bin, was Jovana Reisingers Klassenkampf angeht, sehr zuversichtlich. Ich glaube, diese Tussi hat gerade erst angefangen. Wohin werden ihre Heels sie tragen? Wer weiß das schon. Ein Schritt nach dem anderen. Klack, Klack, Klack.