Psychotherapie für alle? Über Zugang und Diversität
Fehlender Zugang, wenig Vielfalt, mangelndes Verständnis: Psychotherapeut Lukas Maher kritisiert strukturelle Defizite der Psychotherapie. Was müsste sich ändern, damit Therapie für alle besser wird?
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Die Strukturen der Psychotherapie stehen häufig in der Kritik. Dabei werden nicht nur zu lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz regelmäßig beklagt. Es geht auch darum, wer realistisch gesehen Zugang zu Therapie hat, und wessen Lebensrealitäten zu wenig Beachtung finden. Zu den Kritikern gehört auch Lukas Maher, Psychologe, systemischer Psychotherapeut und Autor. Auf Anfrage von canny erklärt er, welche Auswirkungen mangelnde interkulturelle Kompetenz im therapeutischen Raum haben können und was es braucht, damit Psychotherapie diverser wird.
Warum viele Menschen durchs Raster fallen
Die Therapiesuche, Termine regelmäßig einzuhalten und sich mit mentalen Problemen auseinanderzusetzen, erfordert nicht nur Kraft, sondern auch Zeit und in manchen Fällen Geld. Für viele Menschen ist dies jedoch nicht leistbar. Prekäre Lebensverhältnisse sind dementsprechend nicht nur ein Risikofaktor dafür, dass Menschen überhaupt erst psychisch erkranken. Sie sind auch der Grund dafür, dass die Therapie häufiger abgebrochen wird, erklärt Maher, denn vielen Betroffenen fehle es an Stabilität, Ressourcen und Headspace. Unbehandelt könne die Erkrankung dann zu einer weiteren Zuspitzung der ohnehin schwierigen Lage führen. „Es ist ein Teufelskreis.“
Hinzu komme, dass Behandelnden oft das Verständnis für die Lebenssituation dieser Menschen fehle, weil ein Großteil von ihnen aus weißen Akademiker:innenfamilien stamme, kritisiert Maher auf seinem Instagramkanal. Die fehlende interkulturelle Kompetenz betreffe somit auch Menschen mit Migrationsgeschichte und People of Color (PoC). „Psychotherapie kann nicht funktionieren, wenn da nur weiße Akademiker sitzen“, schreibt er in selbigem Instagrampost. Denn wenn sich Patient:innen in ihren Erfahrungen und Problemen unverstanden oder nicht ernstgenommen fühlen, tendieren sie laut Maher auch eher dazu, eine Therapie abzubrechen. Ebenso seien sie künftig davon abgeneigt, eine neue Therapie zu beginnen. „Das ist faktisch ein Gesundheitsrisiko.“
Er verweist auf ein bekanntes Muster, dass sich abzeichne, wenn Behandelnde keine Erfahrungen mit bestimmten Problemen haben: „Therapeut:innen geraten in Ohnmacht. Die Ohnmacht wird abgewehrt und es heißt, Patient:innen seien ‚schwierig‘.“ Dabei sei diese Ohnmacht für viele PoC und Menschen mit Migrationsgeschichte Teil ihrer kollektiven, alltäglichen Erfahrung. In der Therapie werde sie hingegen individualisiert – „vor allem dann, wenn Therapie als Reparaturbetrieb verstanden wird“. Das führe zu Scham und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden.
Fortbildungen und diskriminierungssensible Ansätze seien zwar wichtig, aber nicht ausreichend. „Der Beruf an sich benötigt mehr Vielfalt, weil sich nur so auch die Art und Weise, wie wir Therapie angehen, nachhaltig verändern kann.“
Strukturelle Hürden: Wer darf überhaupt Therapeut:in werden?
Dass es im Berufsfeld der Psychotherapie bislang an Diversität mangelt, liegt laut Maher auch an den Zugangsbedingungen. „Das war selten so schlecht wie in der heutigen Zeit.“ Wer Psychotherapeut:in werden möchte, brauche mittlerweile nicht nur ein sehr gutes Abitur, sondern für die Weiterbildungsplätze zum bzw. zur Fachpsychotherapeut:in auch einen sehr guten Masterabschluss, stellt Maher fest. Ebenso beschwerlich ist die kostenintensive Weiterbildungsphase, deren Finanzierung im Rahmen der Reform noch immer nicht geklärt ist. „Solche unsicheren und prekären Bedingungen schrecken jene ab, die selbst aus prekären Verhältnissen stammen und denen der finanzielle Rückhalt fehlt.“
Für Maher ist klar: Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und finanzielle Sicherheit sind Grundvoraussetzungen für mehr Vielfalt im Therapieberuf. Zudem brauche es „eine viel breitere Auseinandersetzung mit dem Diversitätsbegriff, damit dieser nicht von bürgerlichen Logiken des Therapiezimmers geschluckt wird“.
Was Therapeut:innen tun können
Maher sieht auch sich selbst in der Verantwortung, Therapie gerechter zu gestalten. Zwar führt er aktuell eine Privatpraxis, trotzdem versucht er, Barrieren abzubauen. „Ich biete Menschen aus anderen sozialen Schichten und/oder mit Migrationsgeschichte an, eine außervertragliche Psychotherapie anzustreben, die dann von der Krankenkasse bezahlt wird.“
Im therapeutischen Prozess gehe es vor allem darum, über relevante Zusammenhänge informiert zu sein und „unangenehme Gefühle nicht wegerklären zu wollen“. Als Therapeut müsse Maher seine „eigene Ohnmacht aushalten können.“ Wenn das nicht geht, dann liege die Schuld nicht beim Gegenüber. In diesem Fall wäre eine Supervision für den oder die Behandelnde angebracht. Maher betont, dass es ihm nicht nur um individuelle Empathie, sondern auch um strukturelles Engagement gehe: „Ich sehe meine Verantwortung darin, mich für Menschen einzusetzen, die weniger privilegiert sind – auch oder vor allem dann, wenn es mich einige Privilegien kosten könnte.“
© Lukas Maher
Lukas Maher ist Psychologe, Sportpsychologe und psychologischer Psychotherapeut für systemische Therapie. Er ist außerdem Autor des Buchs “Trigger, Trauma, toxisch: Die 45 größten Mental-Health-Irrtümer.” Als @systemischegesundheit informiert er auf Instagram über verschiedene psychologische Themenbereiche.
Tipps für Therapiesuchende und Patient:innen
Um zu vermeiden, dass mangelnde interkulturelle Kompetenz oder fehlendes Verständnis während der Therapie zum Problem werden, kann es für Therapiesuchende sinnvoll sein, bereits im Vorfeld besonders auf die Passung zu achten, so Maher. Auch, wenn die Wartezeiten mitunter lang sind. Eine weitere Möglichkeit kann sein, sich an Vereine oder Netzwerke zu wenden, die Erfahrungen gesammelt und Listen von Therapeut:innen veröffentlicht haben.
In der Therapie selbst sei es wichtig, Vertrauen und Machtverhältnisse aktiv anzusprechen. „Fühlt man sich ernst genommen, auch in unbequemen Situationen, oder nicht?“ Falls nicht, empfiehlt Maher, die oder den Therapeut:in zu wechseln. Generell sei es sinnvoll, als Patient:in auf das Bauchgefühl zu vertrauen.