„Wir setzen da an, wo das Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt“

Ob es um die richtige Diagnose, empathischen Umgang oder umfängliche Beratung geht – das Gesundheitssystem ist für viele Personen alles andere als ein Safe Space. Das Feministische Frauen Gesundheitszentrum e.V. kümmert sich um all jene und kämpft für feministische Gesundheitsversorgung.

Zwei Frauen stehen vor einem Bücherregal.

© Toni Quell. Nina Schernus und Sophie Koch in der Bibliothek des FFGZ.

Viele Frauen* erleben in ärztlicher Behandlung Medical Gaslighting, Misogynie oder werden unzureichend beraten. Für Betroffene von sexualisierter Gewalt sind die Hürden für eine umfängliche (Trauma-)behandlung noch größer. Das Feministische Frauen Gesundheitszentrum e.V. (FFGZ) hat es sich seit über 50 Jahren zur Aufgabe gemacht, den Zugang zu diskiminierungssensiblen Behandlungen zu erleichtern, Frauen* zu tabuisierten Themen zu beraten und einen Safe Space für alle Menschen zu sein, die sich vom Gesundheitssystem nicht aufgefangen fühlen. Nina Schernus und Sophie Koch empfangen uns in ihren Räumlichkeiten in Berlin-Schöneberg und erzählen, warum sie enttäuscht von politischen Entscheidungsträger:innen sind, und was es braucht, um Betroffene von gesundheitlichen Folgen sexualisierter Gewalt besser zu versorgen.

canny: Liebe Nina, liebe Sophie, euer Motto lautet Frauen*gesundheit in eigener Hand, was bedeutet das konkret?

Nina Schernus: Es gibt eine starke Versorgungslücke im Gesundheitssystem, die bedeutet, dass viele Menschen nicht die gesundheitliche Beratung bekommen, die sie brauchen. Wir, als FFGZ, setzen also da an, wo das Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt. Das tun wir, indem wir Informationen zu gesundheitlichen Themen bereitstellen, an die man gar nicht so leicht rankommt – zum Beispiel weil man bei der Internet-Recherche überflutet wird und nicht so gut danach filtern kann: Welche Informationen sind für mich relevant, welche sind unabhängig, welche beziehen sich auf meine Lebensrealität? Mit diesen Informationen beraten wir Frauen*, die Beschwerden und Fragen zu unseren Themen haben. Für unsere Klient:innen sind wir eine wichtige Orientierungs-und Entscheidungshilfe, wenn es darum geht, mit diesen Beschwerden umzugehen oder nächste Schritte einzuleiten. Wir haben dafür ein eigenes Beratungskonzept, in dem wir uns immer mindestens eine Stunde Zeit nehmen. Es geht natürlich auch kürzer, aber wir haben schon den Anspruch, uns mit den Klient:innen alles einmal gemeinsam anzuschauen.

canny: Könnt ihr diese Versorgungslücke näher beschreiben?

Nina Schernus: Häufig fehlt Fachärzt:innen ein gewisses Hintergrundwissen und die Zeit, auf alle Belange einzugehen, die die Menschen mitbringen. Außerdem gibt es oft nicht so eine, ich würde es Parteilichkeit nennen, mit den Patient:innen, die sich an ärztliche Einrichtungen wenden. In einer Welt von Medical Gaslighting ist es unsere Aufgabe, einen empathischen Raum zu bieten. Das ist eine Lücke, die wir hier schließen.


© Toni Quell

Nina Schernus ist Sexualpädagogin und seit 2018 Teil des FFGZ. Sie berät unter anderem zum Thema Vaginal- und Uterusgesundheit, sowie alternativen und hormonfreien Verhütungsmethoden. Dazu zählt auch die Anpassung von Diaphragma und Portiokappe.

„Ich habe in verschiedenen frauenspezifischen Bereichen gearbeitet und schnell gemerkt, dass ich mich mit Gesundheit, aber auch Sexualität beschäftigen will – vor allem mit schambehafteten Themen, über die ungern gesprochen wird. Deshalb bin ich zum FFGZ gekommen.“


canny: Was wäre ein typisches Beispiel für eine Beratungssituation im FFGZ?

Nina Schernus: Zum Beispiel leidet eine Person unter wiederkehrenden Vaginalinfektionen. Sie war schon etliche Male in der gynäkologischen Praxis, aber es verändert sich nichts. Dann geht es für uns darum, zu gucken: Wann sind die Beschwerden das erste Mal aufgetreten? In welchen Situationen tauchen sie auf? Wie geht es der Person in ihrer Beziehung? Wie geht es ihr in ihrem Sexleben? Was wurde schon ausprobiert, was davon hat funktioniert, was nicht? In der gynäkologischen Praxis sind die Behandlungsfenster so eng getaktet, dass es gar nicht möglich ist, tiefer in manche Themen reinzugehen. Das ist aber enorm wichtig, weil der Körper uns Rückmeldungen gibt, was los ist oder was er erlebt hat. Wenn es dafür keinen Raum gibt, dann kommt man auch nicht hinter die Größe der Probleme.

canny: Woraus besteht die Arbeit des FFGZ noch?

Nina Schernus: Neben der Informations- und Beratungstätigkeit machen wir auch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit zu Themen im Bereich feministischer Gesundheit. Dabei sind wir auch auf benachteiligte und marginalisierte Gruppen spezialisiert – zum Beispiel erwerbslose Frauen, Frauen mit Migrationsgeschichte, Rassismuserfahrungen, Fluchterfahrungen und gewaltbetroffene Menschen. Für all diese Gruppen versuchen wir, ein Safer Space zu sein. Gleichzeitig stehen wir in engem Kontakt mit ärztlichen Personen und medizinischem Personal, indem wir gemeinsam an Studien mitwirken, an Leitlinien mitarbeiten oder gemeinsam auf Tagungen und Kongressen unterwegs sind.

Das FFGZ ist außerdem ein Ort, an dem bereits fünf Jahrzehnte lang feministisch gearbeitet wird. Wir haben Kolleginnen, die seit den 80ern hier arbeiten, dadurch haben wir diesen feministischen Generationsaustausch und können auf ein Netzwerk und Wissen zurückgreifen, wie ich das aus anderen Stellen vorher nicht kannte. Im FFGZ ist Feminismus einfach so richtig Handarbeit, mit allem, was dazugehört.

canny: Ein Schwerpunkt eurer Arbeit besteht darin, Betroffene von gesundheitlichen Folgen sexualisierter Gewalt zu beraten. Was können mögliche Folgen sein?

Sophie Koch: Wenn eine Person aufgrund einer Gewalterfahrung ein Trauma davonträgt, kann es sein, dass sich dadurch langfristige Beschwerden entwickeln. Das können beispielsweise Überregungssymptome, also Schlafprobleme oder Herzrasen sein. Oft kommt es zu Dysbalancen, weil der Körper – häufig unbewusst – in eine anhaltende Alarmbereitschaft geht, was mit einer dauerhaften Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol, dem Stresshormon, verbunden ist. Auf der psychischen Ebene sind auch Posttraumatische Belastungs- und Angststörungen typische Folgen.

Viele Betroffene leiden unter psychosomatischen Beschwerden wie chronischen Schmerzen, oft genau an dem Ort, wo das Trauma stattgefunden hat. Dabei handelt es sich um Symptome, die keine oder untypische organische Befunde haben. Psychosomatik geht also auf die Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper zurück – um psychisches Erleben, das sich körperlich ausdrückt und verfestigen kann. Leider ist dieser Bereich teilweise noch zu wenig erforscht.

Auch Reizdarmsyndrom, chronische Erschöpfung, Haut- oder Zahnprobleme können eine Traumafolge sein, zum Beispiel weil sich der Stress auf den Kiefer auswirkt. Betroffene von einer oralen Gewalterfahrung haben dann häufig auch große Angst vor zahnärztlichen Untersuchungen – vor allem, weil die meisten Ärzt:innen nicht traumasensibilisiert sind. Man merkt, das Spektrum ist sehr breit und das sind nur ein paar Beispiele für mögliche gesundheitliche Folgen.

Nina Schernus: Im Endeffekt zieht sich Gewalt wie ein roter Faden durch alle unsere Beratungsthemen. Rein statistisch sind unter den Patient:innen in einer ärztlichen Praxis immer auch einige Gewaltbetroffene dabei und die Menschen, die zu uns kommen, haben in der Regel ohnehin patriarchale Gewalterfahrungen gemacht, die sich nicht nur auf sexualisierte Gewalt beziehen. Das heißt, dieser Zusammenhang bei chronischen Beschwerden ist nicht unwahrscheinlich.

Sophie Koch: Jede dritte Frau – das war eine genderbinäre Erhebung – wird mindestens einmal Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer physischer oder sexualisierter Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner. Bei queeren Menschen gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer. Laut einer Studie hat aber mindestens ein Drittel aller Transpersonen schonmal sexualisierte Gewalt erlebt. Die Zahlen sind Horror und zeigen, dass Gewalt und ihre Folgen omnipräsent sind. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum diese belegten Tatsachen nicht in allen relevanten Bereichen – auch im medizinischen – ausreichend berücksichtigt werden.


Sophie Koch ist Soziologin und arbeitet seit über einem Jahr als Beraterin und Projektleiterin am FFGZ. Sie hat zuvor bereits jahrelang in der Beratung und mit traumatisierten Menschen, vor allem Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, gearbeitet. Sophie berät am FFGZ zu den Themen Endometriose und gesundheitliche Langzeitfolgen nach sexualisierter Gewalt.

„Ich hatte schon immer ein Interesse für Gesundheit und den Anspruch, ganzheitlich auf Prozesse zu blicken. Auch, weil ich gemerkt habe, dass es in unserem Gesundheitssystem eine Diskrepanz zwischen dem Bedarf an psychosozialer Unterstützung und ärztlicher Versorgung gibt.“


canny: Wie äußert sich die zuvor genannte Versorgungslücke für Betroffene von gesundheitlichen Folgen sexualisierter Gewalt?

Sophie Koch: Viele medizinische Fachkräfte arbeiten nicht traumasensibel und -informiert in der Anamnese. Ich kann mir auch vorstellen, dass bei vielen Ärzt:innen das Nachfragen blockiert ist, weil sie sich darin nicht kompetent genug fühlen. Es braucht aber eine traumainformierte Anamnese und Diagnostik, weil die Zusammenhänge in der Regel nicht bewusstseinsnah sind. Patient:innen dürfen also nicht als losgelöstes Symptom, sondern müssen als Mensch mit einer Lebensrealität und -geschichte gesehen werden. Das Problem ist, dass man das als Arzt oder Ärztin in acht Minuten durchschnittlicher Behandlungszeit gar nicht schafft. Ich nehme auch wahr, dass viele Ärzt:innen überlastet sind, weil sie in einem dysfunktionalen Gesundheitssystem arbeiten, unter dem nicht nur Patient:innen leiden.

Aus meinem ärztlichen Bekanntenkreis weiß ich auch, dass dieses Thema in deren Ausbildung gar nicht so verankert ist. Meist sind Ärzt:innen sehr gut in der Lage, Sachen auszuschließen oder herauszustellen, aber wenn es darum geht, körperliche und psychische Dimensionen zusammenzudenken, wird es schwierig.

canny: Es ist ja oft auch gar nicht so einfach, überhaupt an einen fachärztlichen Termin zu kommen…

Sophie Koch: Und wenn dann die entsprechende Beratung oder Behandlung keine Kassenleistung ist, kommt auch noch ein sehr klassistisches Element dazu. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Person, die ich berate, auch die finanziellen Ressourcen hat, meine Empfehlungen umzusetzen. Viele unserer Klient:innen sind leider enorm prekarisiert, was finanzielle Stabilität betrifft.

Nina Schernus: Ja, da spielen eben auch die Strukturen im Gesundheitssystem eine Rolle. Wir sind an vielen Stellen noch weit weg von traumainformierter oder traumasensibler Arbeit. Häufig ist es eher so, dass eine Retraumatisierung stattfindet. Das liegt unter anderem daran, dass das Gesundheitssystem immer noch sehr patriarchalisch gebildet ist, bezüglich dessen, was gelehrt und was für ein Bild auf Frauenkörper und queere Körper projiziert wird. Das zeichnet sich darin ab, dass Menschen zum Beispiel in der gynäkologischen Praxis gesagt wird: „Stellen Sie sich doch nicht so an“, oder: „Wenn Sie Ihre Beziehung am Laufen halten wollen, müssen Sie Sex mit Ihrem Freund haben“. Das ist extrem übergriffig und kann gewaltbetroffene Personen retraumatisieren. Natürlich gilt das nicht für alle, es gibt wunderbare Ärzt:innen, die sich mit ihren Patient:innen sensibel auseinandersetzen. Aber so wie es gerade aufgebaut ist, funktioniert unser Gesundheitssystem in diesem Bereich nicht.

Sophie Koch: Die Bagatellisierung von Beschwerden und die Unterstellung, dass sich Betroffene etwas einbilden, ist ein enorm wichtiger Aspekt. Weil das eine klare Retraumatisierung von Ohnmachtsgefühlen ist. Betroffene werden mit ihren Problemen alleingelassen. Dabei ist es eigentlich besonders wichtig, sich früh um Beschwerden und Traumata zu kümmern, bevor sie sich verfestigen und verselbstständigen.

canny: Wo setzt eure Beratung in diesem Bereich an?

Sophie Koch: Wir versuchen in einer Einzelberatung individuelle Fragen zu beantworten, die zu intim für eine Veranstaltung oder einen Workshop sind, auch weil die Betroffenen schutzbedürftiger sind. Da geht es dann um die Symptomklärung, aber auch darum, sich auf die Ursachensuche zu begeben – vor allem bei Betroffenen, denen ihre Gewalterfahrung vielleicht gar nicht bewusst ist. Wir versuchen außerdem, den Betroffenen Mut zu machen, nochmal andere Sachen auszuprobieren. In unseren Kursen können sie sich zum Beispiel Alltags- und Bewältigungsstrategien aneignen, um mit ihren Traumafolgen besser umzugehen.

Die Hand einer Frau mit Ringen blättert durch ein Magazin.

© Toni Quell. Die beiden Frauen blättern durch die neuste Ausgabe der Zeitschrift für Frauengesundheit Clio.

canny: Für viele Betroffene seid ihr die letzte Hoffnung nach vielen unangenehmen ärztlichen Behandlungen. Wie geht es für Betroffene nach eurer Beratung weiter? Wohin verweist ihr sie, wenn ärztlicher Rat notwendig ist?

Sophie Koch: Es gibt verschiedene Beratungsstellen, die ihr gesammeltes Wissen in einer diskriminierungsbewussten Liste zur Verfügung stellen. Lara ist zum Beispiel eine Beratungsstelle gegen Gewalt an Frauen und Personen. Diese Listen können wir an Betroffene weitergeben und darin finden sie, sortiert nach Marginalisierungskategorien, passende Anlaufstellen. Das heißt, wenn jemand zum Beispiel von Rassismus oder Queerfeindlichkeit betroffen ist, kann die Person in der Liste sehen, wo sie sicher aufgehoben ist.

Queermed und Gynformation sind ähnliche Seiten, die solche Informationen zur Verfügung stellen. Dort können Patient:innen selbst berichten, welche Erfahrungen sie in ärztlichen Praxen gemacht haben. Wir selbst haben auch eine Liste, die über die Zeit enorm gewachsen ist. Leider ist die Pflege der Datenbank sehr zeitintensiv. Es bräuchte eigentlich eine Zertifizierung, die empfehlenswerte ärztliche Praxen für Betroffene von Gewalt oder Diskriminierung erkennbar macht.

canny: Wo zieht ihr eine Grenze bei eurer Beratungskompetenz?

Sophie Koch: Es ist wichtig, zu betonen, dass unsere Beratung keinen Besuch in einer ärztlichen Praxis oder medizinische Diagnostik ersetzt. Das ist gar nicht unser Anspruch und das wissen die Klient:innen, die zu uns kommen. Wir bieten Raum für das, was oft zu kurz kommt. Zum Beispiel eine Diagnose richtig zu verstehen, was heißt es beispielsweise, wenn mir ein Arzt attestiert, dass ich aufgrund meiner Endometriose unfruchtbar bin? Das ist uns sehr wichtig, dass wir ein Bewusstsein für unsere Kompetenzen aber auch Grenzen haben, und unsere Beratung im besten Sinne nur eine Ergänzung zur Schulmedizin ist, die eine Versorgungslücke füllt.

canny: Auf eurer Webseite schreibt ihr, dass eure Existenz bedroht ist. Wie steht es aktuell um die Finanzierung des FFGZ? Was sind potenzielle Hürden?

Sophie Koch: Unsere Beratungsstelle wird durch die Beratungseinnahmen und Fördermittel der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege sowie durch einen hohen Eigenmittelanteil des FFGZ finanziert. Jährlich bringen wir ca. 15.000 bis 18.000 Euro an Eigenmitteln ein – etwa durch Spenden und Vertriebseinnahmen. Das Problem ist, dass wir jedes Jahr einen neuen Antrag für diese Zuschläge stellen müssen. Wir haben auch schon mehrfach gemeldet, dass wir mehr Geld brauchen, weil wir unter anderem aktuell zu viert auf drei Vollzeitstellen arbeiten. Bisher wurde das aber nicht ermöglicht. Diese Entscheidungen werden dazu noch sehr kurzfristig gefällt. Es kann also sein, dass ich im September den Antrag stelle und im Dezember erst erfahre, ob wir für das kommende Jahr gefördert werden. Für uns ist es ein enormer Kraftaufwand, unsere Existenz zu sichern. Denn unsere Personalkosten könnten von Spenden und anderen Einnahmen gar nicht gedeckt werden.

Nina Schernus: Ich finde es extrem kritisch, dass Projekte, die sich um die Situation von Überlebenden sexualisierter Gewalt kümmern, nie genau wissen, ob ihre Existenz gesichert ist oder nicht. Es geht auch anderen Projekten in diesem Bereich so. Das ist schon ein sehr zynisches Bild.

Sophie Koch: Generell mangelt es an politischer Anerkennung für feministische Gesundheitsversorgung. Viele dieser Projekte sind aus einem aktivistischen Kontext heraus entstanden, der eine klare Versorgungslücke aufzeigt. Anstatt das zu unterstützen, wird in Sitzungen davon gesprochen, dass, ich zitiere, „über die Projekte im Rasenmäher-Prinzip gefahren werden soll und dass nicht alle überleben können“. Das ist respektlos und macht mich, ehrlich gesagt, wütend.

Blaues Kissen auf einer blauen Couch.

© Toni Quell. Eine Couch in den Beratungsräumen am FFGZ in Berlin-Schöneberg.

canny: Warum habt ihr euch entschieden, Betroffene sexualisierter Gewalt trotz eurer begrenzten Ressourcen kostenlos zu beraten?

Sophie Koch: Eigentlich würden wir gerne unser gesamtes Angebot für alle Personen kostenlos machen, weil der Bedarf groß ist. Das können wir uns aber nicht leisten, weil wir – auch unabhängig von unseren Eigenmitteln – Einnahmen durch die Beratung generieren müssen, um überhaupt Aussicht auf Weiterfinanzierung zu haben. In dem Bereich gesundheitliche Folgen sexualisierter Gewalt haben wir uns jedoch explizit dazu entschieden, kostenlos zu beraten, weil die Betroffenen ohnehin einer Mehrfachbelastung unterliegen. Wenn man beispielsweise als queere Person und als Frau diskriminiert wird und dann noch sexualisierte Gewalterfahrung(en) gemacht hat, gibt es schon enorm viele Hürden im Gesundheitsbereich – auch ohne den finanziellen Aspekt. Wir versuchen es deshalb, für die Personen, die zu uns kommen, so einfach wie möglich zu gestalten.

canny: Was muss sich eurer Meinung nach ändern, damit Betroffene von sexualisierter Gewalt besser versorgt sind?

Sophie Koch: Es müsste eine kassenfinanzierte Traumaversorgung geben. Wir brauchen außerdem eine traumasensible Ausbildung in Medizin und Therapie sowie eine interdisziplinäre, biopsychosoziale Diagnostik. Das heißt, dass die komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Einflüssen auf die Gesundheit mehr berücksichtigt wird. Soziale Sicherheit sollte eine Voraussetzung von Gesundheit sein. Dafür braucht es die Anerkennung von Mehrfachdiskriminierung und kultursensible Angebote.

Letztendlich ist Gesundheit politisch. Jede strukturelle Verbesserung entlastet nicht nur einzelne, sondern das gesamte Gesundheitssystem. Dafür braucht es mehr Solidarität und Empowerment.

canny: Das ist doch ein gutes Schlusswort. Danke Sophie und Nina für das Gespräch!


Quellen zu den Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt:

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/ formen-der-gewalt-erkennen-80642

https://lesmigras.de/wp-content/uploads/2021/11/Dokumentation-Studie-web_sicher.pdf

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"Legitimation durch Leistung“

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Wie mobilisiert man 1,2 Millionen Menschen für den Feminismus?